Ungarn Wahl
2006.04.10. 12:49
UNGARN-WAHL
Watergate an der Donau
Von Tobias Lill, Budapest
Antisemitische Parolen, gehackte Server, Bombendrohungen und gewalttätige Übergriffe: Der ungarische Wahlkampf wird immer brutaler. Am Sonntag entscheiden die Wähler, ob der regierende Sozialist, Ministerpräsident Gyurcsany, im Amt bleibt - das Donauhochwasser könnte ihm zugute kommen.
David Pusztai zögert, bevor er dem Passanten die bunte Wahlwerbung in die Hand drückt. "Wenn man an den Falschen gerät, kann das gefährlich werden", sagt der 27-jährige Budapester. Er ist einer der zahlreichen Parteihelfer, die derzeit in Ungarn auf Stimmenfang gehen. "Daher sollte man vorsichtig sein", rät der Jurist, der Mitglied bei den regierenden Sozialisten (MSZP) ist.
AP Oppositionsführer Orban: Wahlkampf mit Begriffen wie "Lebensraum" und "Vorzeige-Zigeuner" Pusztais Angst vor Übergriffen ist nicht unbegründet: Auf einen Wahlhelfer der liberalen SZDSZ wurde in Budapest vor einigen Wochen mit einer Gaspistole geschossen. Der 26-jährige Student hatte an einer Haustüre geklingelt, um Unterschriften für die Nominierung eines Kandidaten zu sammeln. "Der Mann fluchte, steckte eine Pistole durch einen Schlitz in der Tür und drückte ab", gab der Student bei der Polizei an.
Gewalt bekommen in diesem Wahlkampf Kandidaten nahezu aller Parteien zu spüren: Mehrere Männer drangen in das Haus eines Kandidaten der bürgerlichen Zentrumspartei ein und schlugen ihn brutal zusammen. Eine 75-jährige Aktivistin der nationalkonservativen Jungdemokraten "Fidesz" erlitt im südungarischen Pécs schwere Verletzungen, als sie beim Verteilen von Parteiwerbung von Schlägern angegriffen wurde.
Bombendrohung verstärkt Klima der Angst
In der vergangen Woche erreichte das Klima der Angst seinen vorläufigen Höhepunkt: Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany veröffentlichte Informationen des slowakischen Geheimdienstes, nach denen slowakische Kriminelle planten, zwischen den beiden Wahlgängen am 9. und 23. April Bombenanschläge auf Parteiveranstaltungen zu verüben. Auch wenn ungarische Experten den Geheimdienst des Nachbarlandes nur für bedingt glaubhaft halten, herrscht in Budapest Alarmstimmung. "Das Ziel dieser Kriminellen ist es augenscheinlich, die politische Lage zu destabilisieren", sagt Gyurcsany. Bereits 1998 erschütterte eine Bombenserie den ungarischen Wahlkampf: Damals explodierten unter anderem Sprengsätze in mehreren Parteibüros und der Wohnung eines Politikers. Vier Menschen kamen damals beim blutigsten der Anschläge ums Leben.
Wahlkämpfer Pusztai fürchtet: "Die Heftigkeit im Wahlkampf wird bis zum zweiten Wahlgang noch zunehmen." Auch führende Politiker sind bisher wenig zimperlich. Sie scheuen sich nicht, die antisemitische Karte zu spielen. Ein sozialistischer Kandidat musste zurücktreten, nachdem er einen jüdischen Fidesz-Funktionär als "Vorzeige-Jude" diffamierte. Für Aufregung sorgte auch eine Werbeanzeige der Sozialisten, die den Ministerpräsidenten mit der Losung ,,Es gibt ein Land. Es gibt einen Mann. Es gibt ein Programm" zeigt. Nicht nur Oppositionspolitiker bemerkten darin eine unübersehbare Ähnlichkeit mit dem Nazi-Slogan ,,Ein Volk, ein Reich, ein Führer".
Doch auch bei der größten Oppositionspartei Fidesz setzt man gerne auf NS-Jargon: Dem Leiter der Wahlkommission, Peter Szigeti, warf Fidesz jedenfalls unlängst vor, er sei ein "Bolschewik". Und auch Fidesz-Chef Viktor Orban soll nach Medienberichten in der Vergangenheit gerne Begriffe wie "Lebensraum" und "Vorzeige-Zigeuner" benutzt haben.
Noch im Februar sahen Meinungsforscher Fidesz deutlich vor den regierenden Sozialisten. Mittlerweile haben die Nationalkonservativen ihren Vorsprung durch eine Reihe von Skandalen komplett verspielt. Für Empörung bei den Wählern sorgte vor allem eine als "Watergate an der Donau" bekannt gewordene Affäre. Fidesz-Mitglieder hackten sich illegal in den Server der regierenden MSZP ein. Es wurden knapp 3000 geheime Dokumente herunter geladen - darunter angeblich auch die detaillierten Wahlkampfpläne der Parteispitze. Die National-Konservativen versuchten den Vorfall erfolglos herunterzuspielen. Fidesz-Wahlkampfleiter Antal Rogan sagte, "übereifrige" Helfer hätten eine "Dummheit" begangen.
Kurz darauf drohte ein Fidesz-Kandidat einem Mitkonkurrenten der bürgerlichen MDF, ihn und seine Familie "fertig zu machen", falls er zur Wahl antrete.
Einstiger Musterstaat schwächelt
Auch beim TV-Duell am Mittwoch konnte Fidesz mit seinem Spitzenkandidaten Orban nach Ansicht von Beobachtern nicht punkten. Orban, der das Land von 1998 bis 2002 regierte, versucht sinkenden Umfragewerten mit kaum finanzierbaren Wahlversprechen entgegen zu wirken: Er fordert eine 14. Monatsrente, will Sozialabgaben senken und Gesundheitsausgaben erhöhen. Orban hofft auch davon zu profitieren, dass der einstige Musterstaat Osteuropas seit längerem schwächelt. Die Arbeitslosenquote ist auf 7,8 Prozent angestiegen - ein für europäische Verhältnisse aber noch immer niedriges Niveau. Viele Unternehmen, die in den 90er Jahren ihre Produktion nach Ungarn verlagert hatten, sind mittlerweile weiter nach Osten gezogen.
Ungarn, das bis 2010 den Euro einführen will, hat zudem mit einem riesigen Haushaltsdefizit zu kämpfen. Mit 6,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts war dies im vergangen Jahr doppelt so hoch wie der Vertrag von Maastricht erlaubt. "Wir leben schlechter als vor vier Jahren", heißt es auf einem in düster gehaltenen Fidesz-Plakat.
Durch seine EU-Skepsis könnte Orban ebenfalls punkten in einem Land, das mehr und mehr eine angebliche Vorherrschaft Brüssels und ein "Ausbluten nationaler Interessen" fürchtet. Auf nationalistische Feindbilder setzt auch die rechtsradikale MIEP, die bis 2002 im Parlament vertreten war. Sie wittert hinter der Globalisierung eine "jüdisch-amerikanische Weltverschwörung" und fordert eine Revision des Vertrags von Trianon und eine Wiederherstellung Großungarns. Die MIEP dürfte jedoch an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern.
Dieses Schicksal droht auch dem traditionellen Koalitionspartner der MSZP, der liberalen SZDSZ. Ministerpräsident Gyurcsany muss dann, um eine absolute Mehrheit zu erringen, auf die weiter anhaltende Donau-Flut setzen - und könnte damit Erfolg haben. Schließlich gelang es schon einmal einem sozialdemokratischen Regierungschef, eine verloren geglaubte Wahl mit energischem Auftreten während einer Flutkatastrophe noch zu drehen: Gerhard Schröder.
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