Niedersachsen
2006.07.25. 19:11
Bundesländerserie - Teil 10
Bundesländer-Serie: Niedersachsen
Von Jürgen Petschull CeBIT und Seeblick, VW und Tee, Wissenschaft und Wellness, Kunst und Küste, Hochdeutsch und Plattdütsch – das ist typisch Niedersachsen. Diese besondere Mischung aus Hightech und Heide, Automobilbau und Ackerbau, Nobelpreisen und Nordseeinseln findet sich nur im Nordwesten Deutschlands. Eine kleine Reise durch das flache Land zwischen Elbe und Weser – mit vielen Höhepunkten. Bundesländer-Serie, Teil 9
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Die Norddeutsche Tiefebene, so spricht der Spötter, sei für die menschliche Besiedlung eigentlich nicht geeignet. Ist schon wahr: Sonnenanbeter und Steilwandkletterer können bei uns leicht in längerfristige Schwermut verfallen. Der Nebel, der Nieselregen, die Scherenschnitte der blattlosen Bäume vor dem endlosen steingrauen Himmel, das flache, matschige Land unter den kalten Gummistiefeln, die bei jedem Schritt schwerer werden – da muss man durch, durch diese dunklen Tage von November bis Februar. „Watt mutt, datt mutt!“ wie der plattdeutsche Wattenmeer-Anrainer sagt.
Aber dann – welch eine Wiederauferstehung! Welch ein Leuchten zur Frühlingszeit mit den endlosen weißen und rosafarbenen Meeren von Kirsch- und Apfelblüten, mit sonnengelben Raps- und Kornfeldern im Sommer, mit bunten Alleen, prallvollen Obstbäumen und knackig fallenden Kastanien und Walnüssen im Herbst. Drei Wintermonate mies – neun Monate Paradies. Eigentlich keine schlechte Jahresbilanz. Soviel zur Großwetterlage bei uns hier oben, im Land zwischen den Urströmen Ems, Weser und Elbe.
Seit mehr als zwanzig Jahren verbringe ich intensive Teile meiner Lebenszeit hundert Kilometer nordwestlich von Hamburg, hinter Stade und vor Cuxhaven. Ich bin zuvor viel in Deutschland herumgezogen und als Journalist in der Weltgeschichte herumgekommen. Aber hier hinterm Deich der Oste habe ich Wurzeln geschlagen. Hier habe ich alte Häuser restauriert, hier habe ich Bäume gepflanzt und Bücher geschrieben und eine Tochter gezeugt. Über die Jahre sind mir Land und Leute Heimat geworden. Mein Niedersachsen – das ist ein etwa hundert Quadratkilometer großes, weitgehend entwässertes Feuchtgebiet rings um Osten an der Oste, ein stilles Örtchen, das Naherholungstouristen wegen seiner Postkartenidylle mit Spitzturmkirche, dem „Fährkrug“ und der Schwebefähre, einem international gerühmten technischen Baudenkmal aus Kaisers Zeiten, schätzen.
In meinem ganz persönlichen Niedersachsen kommen die anderen knapp acht Millionen grundsympathischen Menschen viel zu kurz, die auf den übrigen 47500 Quadratkilometern zwischen Helgoland und Harz, zwischen Nordhorn und Lüneburg siedeln, die in Wilhelmshaven oder Wolfsburg, Goslar oder Göttingen leben. Sie alle bitte ich um Nachsicht.
Dennoch, einige Superlative aus dem zweitgrößten bundesdeutschen Flächenland können nicht oft genug wiederholt werden. Zum Beispiel: In Niedersachsen produziert Deutschlands größte Automobilfabrik – das Volkswagenwerk in Wolfsburg. In Niedersachsen werden die schönsten Luxusschiffe der Welt gebaut – bei der Meyer-Werft in Papenburg. In Niedersachsen buchen die meisten Deutschen ihre Urlaubsreisen – bei TUI in Hannover. Im Laufe der Jahrzehnte haben 43 in Niedersachsen lehrende und forschende Geistesgrößen einen Nobelpreis bekommen – die meisten als Mitarbeiter der Universität Göttingen. Und nicht zu vergessen: Niedersachsen hat mutmaßlich den höchsten Pro-Kopf-Anteil von Schützenbrüdern aller vereinten deutschen Länder, was einmal im Jahr beim größten Schützenfest der Welt in Hannover demonstriert wird.
Eineinhalb Jahrzehnte ist es erst her, da war unser Bundesland mit Waffen weitaus größeren Kalibers bestückt. Damals war „Lower Saxony“ für die Militärstrategen im Washingtoner Pentagon und im Brüsseler Nato-Hauptquartier das Ende der freien Welt. Gott sei Dank: die Zeiten sind vorbei. Heute liegt Niedersachsen mitten im friedlich wiedervereinten Deutschland. Als Anfang der neunziger Jahre der Kalte Krieg zu Ende ging, da haben ein paar Männer aus Hannover die Musik dazu gemacht. Klaus Meine und seine Band „Die Scorpions“ wurden sogar am Roten Platz in Moskau von mehr als hunderttausend Zuhörern bejubelt, als sie dort ihren Welthit „Wind of Change“ zum Besten gaben.
Von Berlin, Hamburg oder München aus gesehen, mag Hannover nicht gerade als pulsierende Metropole wirken, hat doch schon einst der Philosoph Theodor Lessing seine Heimatstadt ein „Paradies des Mittelstandes, der Bemittelten und jeder Mittelmäßigkeit“ genannt. Doch die Leute an der Leine leben gelassen mit dem Vorurteil, in ihrer Stadt habe die gepflegte Langeweile ein Zuhause gefunden. Gepflegt, ja: die berühmten, barocken Herrenhäuser Gärten stehen dafür und die gutbürgerlichen Wohnviertel an der grünen Eilenriede und am Maschsee. Langweilig, nein: Regisseure und Darsteller der Oper und des Theaters spielen ebenso in der Bundesliga mit wie die Fußballer von Hannover 96. Ehrenbürgerin der Stadt ist immerhin eine weltberühmte französische Künstlerin: Niki de Saint Phalle, die mit ihren „Nanas“, den überlebensgroßen, bunten Frauenfiguren, heitere Akzente ins Stadtbild gesetzt hat.
Die bekanntesten Einwohner der Halbmillionenstadt sind die Schröders, Ehefrau Doris, Journalistin von Beruf, und Ehemann Gerhard, ein gelernter Rechtsanwalt, heute Bundeskanzler. Sie bewohnen mit Tochter Klara und ihrem russischen Adoptivkind ein Reihenhaus aus den dreißiger Jahren im Zooviertel. Ab und zu werden sie bei ihrem Lieblingsitaliener, im „Roma“, gesehen. Manchmal sind die Eheleute Putin oder Chirac dabei.
Bei der Frage „Spieglein, Spieglein an der Wand, welcher Ort ist der schönste im ganzen Land?“ wird Hannover selten genannt. Celle, Lüneburg, Stade – drei hübsch zurechtgemachte Fachwerk-Diven – gelten gemeinhin als Favoriten. Aber Liebhaber norddeutschen Ambientes wissen auch Papenburg an der Ems oder Undeloh in der Heide oder Worpswede am Teufelsmoor zu schätzen. In Worpswede, dem schick gewordenen Künstlerdorf vor den Toren des Stadtstaates Bremen, haben zur Jahrhundertwende Künstler wie Otto Modersohn, Fritz Mackensen, Hans am Emde, Paula Becker-Modersohn und Heinrich Vogeler Land und Leute gemalt und weltberühmt gemacht. Und Rainer Maria Rilke hat dazu gedichtet. „Herr, der Sommer war sehr groß . . .“ Auch Wilhelm Busch und Hermann Löns haben in ihrer niedersächsischen Heimat gezeichnet und getextet, die je nach Jahreszeit und Beleuchtung mal schwermütig-düster, mal lebensfroh-heiter auf das Gemüt wirkt.
Viele Gegenden bei uns sind noch Natur pur oder erfolgreich renaturiert worden. Von den zehn ökologisch gesündesten deutschen Kreisgebieten liegen allein acht in Niedersachsen. Im Harz balzt wieder der Auerhahn, und in unserer Oste fühlen sich wieder Lachse zu Hause, so sauber ist der naturtrübe Strom, auf den ich durch das Sprossenfenster meines Arbeitszimmers sehe. Von Deutschland und seinen einzelnen Bundesländern gibt es diese nadelscharfen, farbigen Satellitenbilder. So ein Niedersachsen-Poster habe ich mal beim Buchhändler meines Vertrauens in Hemmoor gekauft. Seither – und wenn man weiß, dass amerikanische Weltraumaufklärer auf einzelne Häuser, sogar auf einzelne Menschen herunterzoomen können – fühle ich mich übrigens manchmal beobachtet: der mittelgroße Mittelblonde, der bei Sonnenuntergang auf dem Ostedeich in Höhe von Flusskilometer 94 steht oder sitzt – das bin ich!
Wie eine Wolga für Anfänger strömt der Fluss vor mir in gemächlichen Schwüngen in Richtung Elbe. Und wenn man ihm lange genug beim Strömen zusieht, dann macht das auch in hektischen Zeiten ziemlich gelassen. Manch einem fällt beim Denken auf dem Deich sogar etwas ein, was für den Lebensunterhalt nützlich sein kann. Journalisten, Buchschreiber und Blattmacher nisten in unserer Gegend weiträumig verteilt in zumeist strohgedeckten Erst- oder Zweitwohnsitzen. Sie haben sich aus Hamburg und sogar aus Berlin in diese Gegend verzogen, weil sie einen gemeinsamen Grundgeschmack haben: Alle lieben den unverstellten, weiten Horizont, den gewaltigen Himmel mit den sommerlichen Kumuluswolken, die dramatischen Sonnenuntergänge an klaren Wintertagen, den gemächlichen Wechsel der Gezeiten und der Jahreszeiten. „Norddeutsche Medienlandschaft“ hat die Zeitschrift „Country“ das Niederelbegebiet wegen ihrer zahlreichen, mehr oder weniger prominenten Einwanderer einmal genannt. Der Chef des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, Stefan Aust, betreibt zum Beispiel bei Lamstedt seine eigene Pferdezucht – und bereitet sich dabei schon mal gedanklich auf die nächste Redaktionskonferenz vor. Klaus Liedtke, Chefredakteur des deutschen „National Geographic“, rast an den Wochenenden auf seinem Aufsitzmäher über sein Apfelbaumgrundstück bei Großenwörden, und nebenan hat die langjährige „Brigitte“-Schreiberin Fee Zschocke eine prächtige Schleiereule unterm Dach. Auf meinem Giebel saß übrigens mal eine ganze Nacht lang ein Storch – ein paar Tage später wurde meine Tochter Eva geboren.
Jürgen Petschull
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