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Ministerpräsident Gyurcsány: Seit dem "Lügenskansdal" wird gegen ihn protestiert |
23. Oktober 2006
In Ungarn haben die Gedenkfeiern zum Volksaufstand vor 50 Jahren begonnen. Die Erhebung gegen die Einparteiherrschaft der Kommunisten und die sowjetische Besatzungsmacht hatte am 23. Oktober 1956 mit Massendemonstrationen in Budapest ihren blutigen Lauf genommen und war nach elf Tagen von der Roten Armee niedergeschlagen worden. Am Sonntag eröffneten Staatspräsident Sólyom, Ministerpräsident Gyurcsány und Parlamentspräsidentin Szili im Parlament die Ausstellung „Dank den Helden der Freiheit“.
Danach wurden 70 Persönlichkeiten ausgezeichnet, von denen einige nur Sólyom, nicht aber dem wegen des „Lügenskandals“ umstrittenen Gyurcsány die Hand gaben. Der Ministerpräsident war vor dem Parlament von Demonstranten, die hinter der Absperrung „Revolutionslieder“ angestimmt hatten, mit Pfiffen und Buhrufen empfangen worden.
Ungarn fehlt offenbar der nationale Konsens
Am Abend fand im Beisein zahlreicher Staats- und Regierungschefs eine festliche Gala im Opernhaus statt, bei der Sólyom sowie der österreichische Bundespräsident Fischer - sein Land hatte nach der gewaltsamen Beendigung des Aufstands fast zweihunderttausend Flüchtlinge aufgenommen - die Festreden hielten.
Beide beschworen darin den nationalen Konsens, der offenbar Ungarn fehlt, was sich daran zeigte, daß sowohl die Veteranenverbände der Sechsundfünfziger als auch die Opposition ungeachtet der staatlichen Feiern eigene Gedenkveranstaltungen ausrichten.
„Fehlentwicklungen der Vergangenheit“
Fischer spielte auf die seit Wochen andauernden Proteste gegen den sozialistischen ungarischen Ministerpräsidenten Gyurcsány und die tiefe Spaltung der ungarischen Gesellschaft an, als er sagte, der „politische Wettbewerb“ dürfe „hart und leidenschaftlich sein, aber die Gräben dürfen nicht so tief werden, daß ein Handschlag und ein vertrauensvolles Gespräch unmöglich werden“.
In Österreich habe man „aus den Fehlentwicklungen der Vergangenheit“ die Konsequenz gezogen, „daß der politische Gegner in einer Demokratie kein Feind“ sei. Europa brauche ein „starkes, lebendiges und zum Konsens fähiges Ungarn“.
„Mafiose Clique der Linken“
Wie unüberbrückbar die Gegensätze zwischen Rechts und Links sind, zeigte sich am Vortag, als die regierenden Sozialisten (MSZP) einen Sonderparteitag und die Bürgerallianz (Fidesz-MPSZ) eine Vorstandssitzung abhielten.
Die Sozialisten feierten sich als Wahrer von Demokratie und Errungenschaften der Wende, deren Werte vor Radikalen zu retten seien. Fidesz indessen sieht sich als „Sammelpartei der Bürgerlichen“ einer „mafiosen Clique der Linken“ gegenüber und mit den gleichen Gegnern wie 1956 konfrontiert.
„Zur Zusammenarbeit gezwungen“
Gyurcsány, der im Februar 2007 auch für den MSZP-Vorsitz kandidieren will, sagte vor den Delegierten, in Ungarn werde „ein offener Machtkampf geführt“. Dabei werde nicht nur die Legitimität der Regierung in Frage gestellt, sondern auch das Recht des Parlaments, über die Regierung zu befinden.
Der Kampf finde „zwischen nationaler Progression und nationalen Radikalen, also zwischen Demokraten und Radikalen“ statt, wobei im Blick auf die Legitimität (der Regierung) und Legitimation (des Parlaments) „kein Kompromiß geschlossen werden“ könne.
MSZP-Chef Hiller bekräftigte, die Partei stehe zu Gyurcsány und könne nicht mit Drohungen von ihrer Politik abgebracht werden. Angesichts der Ergebnisse der jüngsten Kommunalwahlen sei man „zur Zusammenarbeit gezwungen“.
Demonstranten „verschwinden“
Nach Auffassung des stellvertretenden Fidesz-Vorsitzenden, Kövér, ist für eine Zusammenarbeit „eine neue, nicht Fremdinteressen dienende Linke“ vonnöten. Die ungarische Nation sei heute mit denselben Kräften konfrontiert wie vor einem halben Jahrhundert, also mit einer geschlossenen, „mafiaartig organisierten Clique, die auch nicht vor gewöhnlichen Straftaten zurückschreckt, die Lüge, Gewinnsucht und Machterhaltung um jeden Preis verkörpert und die den Willen sowie die Meinung der Menschen ignoriert“.
Die ungarischen Sicherheitskräfte haben derweil die auf dem Kossuth-Platz vor dem Parlament ausharrenden Demonstranten „verschwinden“ lassen. Um die „Demonstrationszone“ wurden meterhohe Plakatwände aufgestellt. Die Demonstranten sollen somit für die Staatsgäste unsichtbar bleiben, die an diesem Montag an Kranzniederlegung und Militärparade vor dem Parlamentsgebäude sowie am eigentlichen Festakt in der Volksvertretung teilnehmen.